Für unsere digitale Akademie 2020 konnten wir im September unter anderem Ralf Fücks als Gast gewinnen. Der langjährige Grüne und frühere Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung gründete 2017 das Zentrum Liberale Moderne – ein Thinktank, der sich der „Verteidigung der freiheitlichen Moderne“ verschrieben hat. Ralf beschäftigt sich intensiv mit der Frage „Wie passen Ökologie und Moderne zusammen?“ Wir unterhalten uns immer gerne mit ihm über diese Themen, weil wir glauben, dass die Cradle to Cradle Denkschule das Spannungsfeld zwischen Klima,- Umwelt und Ressourcenprobleme auf der einen Seite und Bevölkerungswachstum und Urbanisierung auf der anderen Seite auflösen kann. Erfreulicherweise sieht Ralf das ähnlich, wie diese (für den besseren Lesefluss redaktionell bearbeitete) Passage aus seinem Gespräch mit Tim bei der Akademie zeigt.
Wer sich heute für Klimaschutz, für Biodiversität engagiert, der hat ja ein chronisch gutes Gewissen. Man fühlt sich auf der richtigen Seite der Geschichte, man ist fortschrittlich. Weil es um die Überlebensbedingungen der Menschheit auf diesem Planeten geht und weil man für die Freiheit der künftigen Generation kämpft. Letzteres ist auch nicht falsch. Wenn der Klimawandel außer Kontrolle gerät und unsere natürlichen Lebensbedingungen gefährdet werden, dann ist das auch eine Gefahr für die Demokratie. Eine andauernde globale Umweltkrise schränkt die Selbstbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der künftigen Generationen dramatisch ein.
Allerdings ist das Engagement für konsequenten Klimaschutz nicht per se demokratisch. Es gibt eine Strömung ökologischen Denkens, die Politik auf ökologische Notstandsverwaltung mit drastischen Eingriffen in Bürgerrechte reduziert — eine Art Zuteilungsregime für knappe Ressourcen. Das ist kein Szenario, das vollkommen aus der Luft gegriffen ist. Das kann tatsächlich eintreten, wenn es uns nicht gelingt, die ökologischen Lebensbedingungen zu stabilisieren. Es gibt innerhalb der Ökobewegung eine autoritäre Unterströmung, die auf umfassende Gebote und Verbote bis in die private Lebensführung setzt. Wir haben sehr unterschiedliche politische Ideen, wie auf diese planetare Krise zu antworten ist.
Eine Ökologie der Restriktion
Wenn man den berühmten Bericht an den Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ von 1972 noch einmal liest, fällt der autoritäre Grundton auf. Die Antwort, die der Club of Rome auf seine Diagnose — dass die Welt auf einen ökologischen Kollaps zu taumelt — gibt, heißt Kontrolle. Und zwar eine dreifache Kontrolle: Erstens über die industrielle und landwirtschaftliche Produktion, das Ende des Wachstums und eine strikte Reglementierung von Unternehmen. Zweitens eine starke Einschränkung der Konsumfreiheit. Und drittens, was heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, auch eine durchaus rigide Kontrolle der Fortpflanzung. Für den Club of Rome gilt die rapide Zunahme der Weltbevölkerung als eine der Hauptursachen der ökologischen Krise.
Diese autoritäre politische Vorstellung, wie wir die Krise in den Griff bekommen, ist meines Erachtens eine konsequente Folge der Problemdiagnose, die der Club of Rome gibt. Im Wesentlichen beschreibt er nämlich die ökologische Krise als ein quantitatives Problem: Zu viele Menschen auf dem Planeten, zu viel Produktion, zu viel Abfall, zu viele Emissionen und zu viel Konsum. Und wenn die Diagnose lautet, dass die Gefährdung unserer natürlichen Lebensgrundlagen eine Folge des „zu viel“ ist, ist es konsequent, vor allem ein striktes „Weniger“ zu fordern: Wir müssen die menschlichen Aktivitäten auf diesem Planeten reduzieren, um wieder in ein Gleichgewicht mit der Natur zu kommen. Ich nenne das die Ökologie der Reduktion. Und wenn die Leute nicht freiwillig dem Aufruf zu Verzicht, Einschränkung und Selbstbeschränkung folgen, dann liegt es nahe, dass die Wende zum „Weniger“ vom Staat durchgesetzt werden muss. Also durch ein staatliches Kontrollregiment, das immer stärker eingreift, sowohl in die Ökonomie wie in die private Lebensführung der Menschen.
Das ist ein bisschen zugespitzt, aber es ist nicht aus der Luft gegriffen. Es gibt diese Vorstellungen in der Ökobewegung, teils latent und zum Teil auch offen. Und es ist kein Zufall, dass durchaus prominente Figuren wie zum Beispiel Jørgen Randers, der schon als Assistent von Dennis Meadows an „Die Grenzen des Wachstums“ beteiligt war, ganz offen mit dem chinesischen Modell sympathisiert, weil er der Auffassung ist, dass die parlamentarischen Demokratien nicht in der Lage sind, die nötigen Restriktionen durchzusetzen. Dass also gewählte Regierungen nicht die Kraft haben, gegen die Mehrheit der Wähler hart durchzugreifen, Betriebe stillzulegen und Einschränkungen von Konsum und Mobilität durchzusetzen. Deshalb glaubt er, dass eine autoritäre Formation, wie sie in China herrscht, eher in der Lage sein wird, die Wende zum Weniger umzusetzen.
Vom Prinzip einer ökologischen Ökonomie
Mal ganz davon abgesehen, welche Illusionen er sich über China macht, halte ich es für vollkommen inakzeptabel, Ökologie und Demokratie gegeneinander auszuspielen und im Namen der Ökologie eine massive Einschränkung demokratischer Freiheiten zu fordern. Es ist, natürlich, die stärkste denkbare Legitimation, wenn man sich auf das Überleben der Menschheit beruft – da scheint jeder Eingriff, jeder Zugriff gerechtfertigt. Das halte ich für einen gefährlichen Irrweg. Nicht nur weil Demokratie ein Wert an sich ist und demokratische Grundrechte sowie gesellschaftliche Selbstregierung auf keinen Fall zur Disposition gestellt werden dürfen. Ich bin auch zutiefst überzeugt, dass ein autoritäres Kontrollregime der falsche Weg ist, um mit der ökologischen Krise fertig zu werden. Natürlich ist es richtig, dass wir alle in unserer privaten Lebensführung ökologische Verantwortung übernehmen müssen. Natürlich ist es richtig, möglichst mit dem Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren und weniger Fleisch zu essen. Niemand muss unbedingt am Wochenende zum Shoppen nach London düsen oder alle paar Wochen Kurzurlaub auf Mallorca machen. Aber selbst, wenn wir uns sehr verantwortlich verhalten, können wir durch veränderte Lebensstile vielleicht 20 oder maximal 30 % der nötigen Reduktion der CO2-Emissionen erreichen.
Klimaneutral zu werden heißt für die hochindustrialisierten Gesellschaften: Reduktion von Treibhausgasen gegen Null. Das ist durch die Privatisierung der Klimafrage schlichtweg nicht zu erreichen. Nicht durch Einschränkungen und Verzicht, sondern vor allem durch eine Revolution unserer Produktionsweise. Der Klimawandel ist das Resultat der fossilen Industriegesellschaft, die ihren Reichtum auf der Basis der scheinbar unbegrenzten Verfügbarkeit von Kohle, Öl und Gas vermehrt hat. Das ist der Hebel, den wir ansetzen müssen. Wir müssen die Transformation von einer fossilen in eine postfossile Industriegesellschaft schaffen: in eine Solar-Wasserstoff-Ökonomie, die auf der Photosynthese beruht. Also auf der Umwandlung von Sonnenlicht, Wasser und CO2 in chemische Energie, auf der die biologische Welt mit ihrem ganzen Reichtum aufbaut. Die Natur ist nicht karg. Selbst in der Sahara blüht es im Verborgenen. Die Kombination aus Photosynthese und stofflichen Kreisläufen ist das Prinzip einer ökologischen Ökonomie. Es geht um nichts weniger als eine grüne industrielle Revolution: den Übergang zu erneuerbaren Energien, nachwachsenden Rohstoffen und synthetischen Kraftstoffen, die auf der Basis erneuerbarer Energie produziert werden. Das kann man durchbuchstabieren bis zur Chemie, zur Stahlindustrie oder der Zementherstellung.
Decoupling als Kern einer grünen industriellen Revolution
Die große Herausforderung ist, wie wir den Übergang in eine klimaneutrale Industriegesellschaft schaffen, die in der Lage ist, die Bedürfnisse von demnächst 10 Milliarden Menschen auf der Welt zu befriedigen. Wir müssen unsere destruktiven Einwirkungen auf das Ökosystem reduzieren. Zugleich leben wir in einer wachsenden Weltgesellschaft. Die Menschenzahl wächst, und die Urbanisierung ist ein enormer Schub für Bautätigkeit, Infrastruktur und Energiebedarf. Heute lebt rund die Hälfte der Menschen in Städten. Die UN sagen voraus, dass es 2050 bis zu 80 % sein werden. Nicht zuletzt treibt der Aufstieg von Milliarden Menschen aus bitterer Armut in die moderne Mittelschicht das wirtschaftliche Wachstum an.
Diese Wachstumsprozesse wird niemand aufhalten. Für die große Mehrheit der Weltbevölkerung ist sozialer Aufstieg nach wie vor an Wirtschaftswachstum gebunden. „Degrowth“ ist global betrachtet eine reine Illusion. Die entscheidende Herausforderung ist, die Wohlstandsproduktion für eine wachsende Weltgesellschaft vom Naturverbrauch zu entkoppeln. Das ist keine Fata Morgana. Decoupling ist der Kern einer grünen industriellen Revolution. Dafür spielen Kreislaufökonomie und Cradle to Cradle eine zentrale Rolle – also das Prinzip, dass jedes Produkt wieder in den biologischen oder den industriellen Kreislauf zurückgeführt werden muss. Ein zweiter Faktor ist eine sprunghafte Steigerung der Ressourceneffizienz: aus weniger mehr machen. Drittens geht es um den Übergang zu einer Solar-Wasserstoff-Ökonomie.
Keine Frage: Die Strapazierfähigkeit der Ökosysteme ist begrenzt. Wir dürfen die planetarischen Grenzen nicht überschreiten. Aber die Einstrahlung der Sonne auf die Erde ist praktisch unbegrenzt. Wir nutzen sie momentan nur zu einem minimalen Anteil. Auch die menschliche Erfindungskraft ist unbegrenzt. Sie hat uns über die letzten 200 Jahre, seit Beginn der Industriellen Revolution, zu enormen Fortschritten geführt: Eine Verdoppelung der Lebenserwartung bei gleichzeitigem Anstieg der Weltbevölkerung um den Faktor 7, ein ungeheurer Anstieg des Bildungsniveaus, der politischen und sozialen Teilhabe. Alles das ist mit der wissenschaftlich-technischen Revolution und der Ausbreitung der Demokratie entstanden. Das sind die beiden Elemente der Moderne, die wir nicht preisgeben dürfen. Sie sind auch die Antwort auf die ökologische Krise.